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Ingvar AmbjörnsenDas Katzenhaus am Grindelberg

Kreatives Lesen.


… Ist alles erlaubt?

Ja. Natürlich. Allein der Autor trägt die Verantwortung für einen literarischen Text. Doch nicht nur eine Autorin legt Kreativität und Phantasiereichtum an den Tag, wenn sie eine Erzählung schreibt. Auch wer das Buch liest, repräsentiert eine gewaltige kreative Kraft, wenn dieses Buch verstanden und verdaut werden soll. Und so, wie ein Autor beim Schreibprozess von seinen eigenen Erfahrungen und seiner persönlichen Wirklichkeitsauffassung geprägt wird, nimmt die bücherliebende Person ihren eigenen privaten Ballast mit in die Lektüre.

Ich persönlich bin fast nie angepöbelt oder kritisiert worden, weil ich in einem Roman wirkliche Personen verwendet habe. Aber ich habe etliche Menschen zutiefst verletzt, weil ich es nicht getan habe. Als „Weiße Nigger“ veröffentlicht wurde, behaupteten zum Beispiel sehr viele, „eigentlich“ Charly oder Rita zu sein. Die beiden wurden ganz einfach ungeheuer beliebt. Das war vor allem bei Rita seltsam, schließlich stirbt sie im Buch sehr qualvoll an Krebs. Dennoch geriet ich immer wieder an höchst lebendige Frauen, die behaupteten, sie seien Rita. In einzelnen Fällen rauchten sie nicht einmal einen Joint, sondern gingen lieber im Wald joggen oder buken Sahnetorten. Dennoch waren sie „in Wirklichkeit“ Rita. Da war es leichter zu begreifen, dass sich viele von dem frechen und schlagfertigen Charly Lie angezogen fühlten. Das war ganz einfach eine Rolle, mit der mancher sich gern identifiziert hätte – und die er dann einfach übernahm. Ich habe keine Ahnung, wie oft mir Leser begegnet sind, die den „eigentlichen“ Charly und die „eigentliche“ Rita kannten. Und allesamt waren das Leute, die mir vorher nie über den Weg gelaufen waren und von denen ich nie auch nur gehört hatte. Ich hörte dann bald auf, diese Behauptungen zu korrigieren.

Es ist mir wirklich passiert, dass Leute verletzt waren, wenn ich erzählte, dass ich mir alle Mühe gegeben hatte, um bei der Entwicklung dieser beiden Personen rein gar nichts aus der Wirklichkeit zu übernehmen. Ich weiß nicht mehr, ob jemals jemand behauptet hat, Peter und der Prof zu sein, aber um die Nebenpersonen in den zehn Büchern über diese beiden wurde heftig gestritten. Ich habe Briefe von Leuten bekommen, die genau wussten, wer die „wirklich“ waren, Personen eben, die sie natürlich aus ihrer engsten Umgebung kannten. Aus Moss und Mo i Rana. Aus Stavanger und Bøler.
Auch Ellling hat sich einige Male zu erkennen gegeben, und einmal hat er beim Verlag angerufen und verlangt, die Romane augenblicklich vom Markt zu nehmen. Vor allem, wie ich seine Mutter beschrieben hatte, gefiel ihm gar nicht.

Warum ist das so? Sind die Leute ganz einfach verrückt? Nein. Das nur sehr selten. In der Regel handelt es sich um eine starke Einfühlungskraft, die uns dann leicht einen Streich spielen kann. Lesen ist ja im Grunde ein Prozess, bei dem das Fiktive auf fast magische Weise in allerlei Varianten der „Wahrheit“ neu entsteht. Man verbindet das literarische mit dem eigenen Leben.

Auch der Autor wird oft in die Auffassung der Lesenden davon, was wirklich ist und was nicht, hineinverwoben. Einzelne Male wird der Autor selbst zu einer Art literarischer Figur. Nicht in einem Roman, den wirklich jemand schreibt, sondern als Mitwirkender in einem Gewebe aus Erzählungen, die zusammen eine Art zusätzlichen Informationskasten neben den Auskünften darstellen, die wir in Lexika und in Wikipedia finden. Er ist die Person, mit der ich nach bald vierzig Jahren im Dienste der Fiktion inzwischen als mit „dem anderen“ leben muss. Dem, der aussieht wie ich und der dieselben Bücher geschrieben hat wie ich, der außerdem aber unendlich viel mehr erlebt und mitgemacht hat. Natürlich hat das sehr viel mit der Presse und damit zu tun, was ich angeblich in allerlei Situationen gesagt habe. Aber ebenso oft ist es pure Fiktion in Erinnerungsform, die von Lesern als sicher und wahr vorgestellt wird.

Endstation Hauptbahnhof Als Drogenkrimineller war ich zum Beispiel nie ein Erfolg, aber immer wieder begegnen mir zahnlose alte Kerle, die sich daran erinnern, wie wir einmal mit der Fähre Peter Wessel vier Kilo Hasch aus Fredrikshavn ins Land gebracht haben. Oder beim Festival auf Kalvøya LSD verkauft. Oder wie ich damals so betrunken und niedergeschlagen war und im Regen vor dem Osloer Ostbahnhof stand und weinte, mit dem Manuskript zu „Weiße Nigger“ in einer Plastiktüte.Weiße Nigger Nichts von allem ist jemals passiert, aber die, die davon erzählen, wissen sogar noch, dass ich damals Petterøe 2 und nicht 3 geraucht habe. Ich habe hunderte von solchen Geschichten gehört. In Norwegen laufen Leute durch die Gegend, die sich als meine Kinder ausgeben. Meine Geschwister. Meine Busenfreunde. Meine Verflossenen. Ich habe mit ihnen in Indien zusammengewohnt. Wir sind zur See gefahren und durch die USA getrampt. Alles ist frei ersonnen. Ab und zu gibt sich auch jemand als ich aus. Eines Abends kommt zum Beispiel eine Mail von einer Frau in Bergen. Sie hat ein „etwas komisches Gefühl“. Ich soll doch bitte bestätigen, dass sie wirklich am vergangenen Sonntag im Bahnhof von Bergen mit mir Kaffee getrunken hat. Was aber nicht der Fall ist. Doch der Betreffende (den sie zum Glück als überaus höflichen Mann schildert) saß also dort mit ihr zusammen und verbreitete sich über meine Bücher und wie sie entstanden sind. Bis ins Detail!

Eines Sonntagsmorgens früh ruft ein Mann an, ich solle bitte bestätigen, dass ich in der vergangenen Nacht angerufen und einen Einbruch in seinem Haus bei Sandefjord gestanden habe. Diesen sachlichen Fehler habe ich korrigiert, ansonsten habe ich schon vor vielen Jahren aufgehört, solche Geschichten zu ruinieren. Viele sind richtig gut, und schließlich bin ich ja selbst auch ein notorischer Lügner.

Eine Gruppe, mit der der Umgang allerdings ein wenig komplizierter sein kann, sind die Leser, die mich für Bücher loben, die ich gar nicht geschrieben habe. Diese Leute geben sich nie geschlagen. Ich irre mich, sie haben recht. Den Titel haben sie meistens vergessen, aber über die Handlung können sie stundenlang erzählen. Diese Bücher haben offenbar einen unauslöschlichen Eindruck gemacht, aber woher kommen sie? Gibt es sie in staubigen Antiquariaten unter den Namen anderer Autoren, oder sind sie einfach Visionen im mystischen Gemüt dieser Leute?
Das nur als allerletzter Kommentar zur Debatte über Wirklichkeitsliteratur, geschrieben in Dankbarkeit und mit aufrichtiger Zuneigung zu allen Leserinnen und Lesern, die mich begleitet und mit mir über mich gedichtet haben, in den Schnittpunkten zwischen Wahrheit und Lüge, Dichtung und Träumen. Beim Lesen geht es nicht nur darum, sich mit der Sprache eines anderen Menschen vertraut zu machen, sondern auch darum, die eigene Sprache zu finden. Ingvar Ambjörnsen

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